Aus der Sprachförderung in der Kita

Sprachförderung in der Kita. Wir haben einen hellen Raum im Erdgeschoss, da treffen sich ansonsten die Vorschulkinder. In die Sprachförderung kommen bis zu fünf Kinder, die zu Hause noch eine andere Sprache sprechen. Immer dabei ist die große Handpuppe Bodo und der kunterbunte Bär, der einfach Bär heißt.

Heute ist nur Kamran (Name von der Autorin geändert) anwesend, die anderen Kinder fehlen. Die Erzieherin und er sind einverstanden, dass wir zu zweit in den Sprachraum gehen. Dort singen wir das Begrüßungslied mit Bodo, er darf den Bären ganz für sich alleine haben, dann möchte Kamran an den runden Mal-Tisch. Dicke Buntstifte liegen dort, Papier. Auch eine Kopie, wo ein kleines Schaf links steht, dann ein kurviger enger Pfad mit Linien gezeichnet ist, der zu einem kleinen Stall in der rechten Ecke führt. Dieses Trainingsblatt spricht Kamran an. Er will sehen, ob er mit dem dicken Buntstift die Linie in der engen Begrenzung vom Schaf bis zum Stall führen kann. Er wird bald Vorschulkind.  

Alleine mit Kamran

Kamran greift nach dem roten Stift, es gelingt ihm. Nur an wenigen Stellen rutscht er über die Linie. Er freut sich und will es gleich nochmal mit einer anderen Farbe versuchen. Das ist schwieriger, aber gelingt durchaus. Zwischen uns entspannt sich ein Gespräch über das Schaf: was es denn überhaupt im Stall will, ob es dorthin schnell laufen oder langsam gehen mag, was für eine Farbe das Schaf und welche der Stall hat, ob das Schaf vielleicht noch einen ganz anderen Weg zum Stall nehmen könnte. Wir unterhalten uns, sind in der Geschichte, die wir gemeinsam kreieren und Kamran beginnt, kreative Lösungen für unsere Fragen zu suchen. Wir sprechen auch darüber, wie schwierig es manchmal ist, auf einem engen Weg zu gehen und das Ziel gar nicht sehen zu können.

Während wir plaudern, beobachte ich nicht nur Kamrans Sprachvermögen, sondern vor allem auch seine Aktivität im Hinblick auf das Nervensystem: Mal dehnt sich seine Energie aus, er ist ganz engagiert im Erzählen dabei, seine Haut wird stärker durchblutet, die Augen weiten sich. Dann fährt das Nervensystem wieder herunter, er atmet langsamer, tiefer, sein Blick wird weicher. In solchen Momenten sagt er dann zum Beispiel: „Ich mag Schafe!“ oder „Weißt du, einmal hab´ ich ein Schaf gesehen. Das war schön.“ Die Aktion von Sympatikus und Parasympatikus verläuft während unseres Austauschs ganz im Window of Tolerance, es ist eine fließende Abwechslung von Erregung und Entspannung. Je länger wir zusammen reden, desto mehr Wörter fallen Kamran ein, desto geschmeidiger und verständlicher wird seine sonst eher kärgere, leise Sprache.

Ich hatte lange auf den Moment gewartet, einmal mit Kamran alleine im Kurs zu sein. Ungeteilte Aufmerksamkeit tut bekanntlich gut. Auch war ich überzeugt, dass seine besondere Wortkargheit in der großen Kitagruppe nicht nur vom Lernstand in der deutschen Sprache abhängig ist, sondern auch etwas zu tun haben könnte mit dem Geheimnis um seine Zähne. Dass ein Zahnarzt seine zwei Vorderzähne als kleines Kind gezogen hatte, war unter den Erzieherinnen bekannt, aber die genauen Umstände dazu nicht.

Gestaute Energie in kleinen Schritten entladen

Während wir uns sprachlich mit dem Trainingsblatt für die Vorschulkinder beschäftigen, suche ich einen Einstieg in die Frage, die mich schon länger beschäftigt: „Wie war das mit deinen Zähnen?“ Ich hatte in der SE-Fortbildung gelernt, mit Schocktrauma umzugehen, die gestaute Schockenergie in kleinen Schritten zu entladen, da das Trauma laut Dr. Peter A. Levine im Nervensystem und nicht im Ereignis sitzt. Daher wage ich nun meine Frage: „Was ist eigentlich mit deinen Zähnen passiert? Hast du da mit einem Schaf gekämpft?“ Er lacht und schüttelt den Kopf. Sein Sympatikus fährt hoch, ich kann seine Erregung am stark durchbluteten Gesicht ablesen. Ich wende mich ihm mit meiner Körperhaltung zu, sitze weiterhin neben ihm, aber nun etwas mehr zugewandt und schaue ihn an.

Er schaut von mir zu seinem Blatt mit dem Schaf und sagt dann ganz ruhig: „Ich bin aus dem Fenster gefallen. Da war ich drei.“ Meine Augen springen auf, ich bin erschrocken, kurz sprachlos. „Uff, du bist aus dem Fenster gefallen!“, staune ich. „Das tat bestimmt richtig weh?!°“ „Ja, aber da war ein Busch. Das war ok.“, sagt Kamran weiterhin ruhig und malt auf dem Blatt grünes Futter für das Schaf. „Wow“, sage ich und staune. „Und dabei sind deine Zähne verletzt worden…“ Er nickt. „Warst du denn da ganz alleine im Busch?“ – „Ja, aber mein Papa kam ganz schnell.“ Kamrans Augen weiten sich, seine Stimme wird weicher. Nach einer kurzen Pause sage ich: „Das war bestimmt toll, dass dein Papa so schnell kam.“ „Ja!“, sagt er und strahlt, hebt sein Blick vom Schaf und schaut mich an. Ich koste diesen Moment aus, versuche seine Freude zu spiegeln und bin mir bewusst, dass wir im Nervensystem gerade in der Ressource unterwegs sind.

Kamran erzählt seine Geschichte

Als Kamran sich wieder dem Malen zuwendet, gehe ich zurück zur Geschichte. „Ich bin neugierig! Wie bist du eigentlich aus dem Fenster gefallen? Und wo war das Fenster überhaupt? War das hoch?“ Kamran wird knallrot, seine Augen reißen weit auf, er sagt: „Ich war im ersten Stock, mein Papa war mit mir am Fenster, aber ich bin rausgefallen.“ – „Auf den Busch“, sage ich und mache eine Gestik, wie wenn etwas fällt. Er nickt. „Und dann ist dein Papa gelaufen und hat dich aus dem Busch geholt? Wow. Wie cool“, sage ich. Kamrans Atmung hat sich sehr verändert, er atmet tief, hechelnd, wie nach einem schnellen Lauf. Er ist knallrot, schwitzt. Ich sitze zugewandt neben ihm, während die Körperimpulse durch ihn hindurchgehen.

Als sich sein System etwas beruhigt, frage ich: „Möchtest du ein Glas Wasser trinken?“, er nickt. Ich habe immer eine Flasche Wasser und Becher im Raum, gieße ihm ein klein wenig ein. „So viel?“, frage ich. „Mehr“, sagt er. „Ich gieße ein wenig nach. „So viel?“ –„Nein, mehr!“ „Das ganze Glas voll?“, frage ich übertrieben erstaunt. „Ja!“, sagt er kräftig und dann nimmt er den Becher und trinkt. „Schön langsam“, sage ich. „Du hast ganz viel Zeit.“ Er trinkt langsam, bis der ganze Becher leer ist. Die Röte weicht nun ganz aus seinem Gesicht, die Atmung entspannt, sein Blick wird weicher. Wir schauen auf sein Papier, er hat dem Schaf nicht nur frisches Futter gemalt, sondern da ist auch ein großer runder Gartenzaun um das ganze Bild herum. Einen zweiten Weg zum Stall gibt es auch und beim Stall sind noch mehr Schafe zu sehen. „Tolles Bild!“, sage ich. „Ist es fertig?“. Er nickt. Kamran möchte jetzt nach oben in seine Gruppe gehen. Ich bringe ihn die Treppe hoch und er läuft in seine Gruppe.

"Kamran redet!"

Als ich das nächste Mal nach fünf Tagen wiederkomme, läuft mir die Erzieherin der Gruppe entgegen und sagt freudestrahlend: „Kamran redet! Er ist ganz verändert!“  Ich bin überrascht und staune. Anscheinend ist bei ihm etwas ins Lot gekommen.

In der Sprachkursstunde sind an dem Tag nur zwei Kinder da, Kamran und ein Mädchen. Das Mädchen möchte nach dem Begrüßungslied unbedingt in den Turnraum, zur Kletterwand. Ich bin etwas zurückhaltend, schaue Kamran an, aber er ist einverstanden. Ich baue also die dicke Turnmatte auf und lege sie unter die Sprossenwand. Das Mädchen beginnt sogleich leichtfüßig hinaufzuklettern und von ganz oben mit Jauchzen auf die Matte zu springen. Sie kommt elegant im Stehen auf und tanzt dann durch den Raum. Kamran sagt: „Ich will auch klettern!“ Ich frage nach: „Bist du sicher, Kamran?“ Er nickt. Ich setze mich direkt neben die Matte auf die Bank und schaue im zu. Er klettert drei oder vier Stufen hoch, dreht sich um, schaut mich an, schaut nach unten. Dann nimmt er seinen Mut zusammen und springt auf die dicke Matte. Er fällt etwas plump auf die Seite, so dass ich mich etwas erschrecke, da es ja ein Fall war und wir gerade vor einer Woche den Fall aus dem Fenster bearbeitet hatten. Aber Kamran rappelt sich auf, schüttelt sich ein wenig und lacht breit.

„Nochmal!“, sagt er und dann klettert er etwas höher. Nach dem zweiten Sprung klettert er bis ganz ans Ende der Sprossenwand unter die Zimmerdecke und schaut sich von oben den ganzen Raum an. Das Mädchen wartet unten, dass er springt. Kamran steigt aber ein paar Stufen wieder zurück und sagt: „Von hier ist es gut“ und springt. Er bleibt unten liegen, während das Mädchen hochklettert, genießt anscheinend die weiche Matte und dann steht er auf, holt den bunten Bär und fährt mit ihm Bobbie-Car. „Super gemacht“, lobe ich ihn. „Du bist von da oben gesprungen!“ und zeige auf die Sprossenwand, wo jetzt das Mädchen steht und zum Springen ansetzt. „Das war cool!“, sagt Kamran und ich bin erleichtert, dass das Springen geglückt ist.

Angela Adhikari, Sprachförderin, Traumapädagogin, Deutsch- Religions-Ethiklehrerin

Ein Plädoyer für somatische Erfahrung – Methodik in der Schule

Von Angela Adhikari, Lehrerin, Sprachförderin, Somatic Experiencing (SE) Anwenderin

Ich lade Sie ein, einen kurzen Moment innezuhalten, zu schauen, wie sich Ihr Atem verändert. Was geschieht in Ihrem Körper beim Lesen der folgenden Sätze? Welche Bilder, Gefühle tauchen auf? Zieht sich vielleicht Ihr Gesicht, Ihr Bauch zusammen oder werden die Augen groß?

Situationen in Schulen:

Kinder, die sich in der Grundschule unter den Tisch flüchten und sich dort zusammenkauern.

Kinder, die in der 5. Klasse mit enormer Wut auf kleinste Anlässe reagieren.

Jugendliche, die im Gymnasium gemobbt werden.

Schüler:innen, die sich in der Hauptschule vergessen fühlen.

Lehrer:innen, die während der Corona-Pandemie täglich Außerordentliches leisten.

Schüler:innen, Lehrkräfte, Schulleitungen, die Unterricht in der Pandemie mitgestalten, erleben oder erlebt haben.

In all diesen Situationen ist, im Lesen und im Erleben, unser Autonomes Nervensystem mitbeteiligt.

Das autonome Nervensystem zeigt eine Kurve im Toleranzfenster: Erregungs- und Entspannungszustände wechseln sich ab, halten sich bestenfalls die Waage, sind ausgeglichen. Mal reagiere ich wütend („Warum wird ein Gymnasiast gemobbt? Das ist nicht ok!“), mal bin ich traurig („Niemand sollte in die Situation kommen müssen, sich ständig vergessen zu fühlen“). Wenn die Selbstregulation im Nervensystem funktioniert, kann ich selbstwirksam handeln, in Beziehung zu anderen gehen und sehe auch einen Sinn in meinem Tun. Ich befinde mich innerhalb des Toleranzfensters.

Window of tolerance

Schüler:innen mit Trauma haben eine Verletzung im Autonomen Nervensystem. Wut schlägt in oftmals wiederkehrende Rage um, Traurigkeit in chronische Hilflosigkeit, Erstarrung. Die Grenzen im Window of Tolerance (Daniel Siegel) sind gebrochen, das Nervensystem „springt“ nach oben heraus, der Mensch gerät dann „außer sich“, ist in einem Zustand von zu hoher Erregung. Wird diese nicht aufgelöst, fällt die hohe Erregung in sich zusammen, erstarrt, das Toleranzfenster wird nach unten hin gebrochen. Das Kind verkriecht sich unter dem Tisch, als letzten Zufluchtsort, wird „unsichtbar“, stumm. Unter der Erstarrung „schlummert“ die hohe Erregung.

Wunden im Nervensystem können von Lehrkräften als solche erkannt werden, wenn das Wissen um somatisches Erleben (SE) Verbreitung findet. Schüler:innen mit Trauma, also feststeckenden Reaktionen im Nervensystem, können die Schule als einen sicheren Ort kennenlernen, wenn das Schulpersonal um die Wirkweisen des Autonomen Nervensystems Bescheid weiß.

Dissoziation im Unterricht

Ein Junge, der zu viele Videospiele spielt, noch bis tief in die Nacht, beamt sich heraus aus seinem gesunden Körpergespür. Ist er morgens im Schulunterricht, sind die Reize dort für ihn nicht mehr groß genug, er schaltet ab, geht in die Dissoziation. Schaut er verträumt aus dem Fenster, versucht sein Körper in die Selbstregulation zu gehen. Diese wird jäh unterbrochen, wenn die Lehrperson unter Androhung von Strafen die sofortige Aufmerksamkeit einfordert. Eine SE-nahe Option wäre es zu fragen: „Jörg, du schaust gerade aus dem Fenster. Nenn mir bitte drei Dinge, die du da siehst.“ Und zur gesamten Klasse gewandt: „Wer nennt mir drei Dinge aus unserem Raum?“ Mit der Frage kommen die Schüler:innen ins Hier und Jetzt, orientieren sich neu und können anschließend dem Unterricht wieder frischer folgen.

Um Schüler:innen und sich selbst als Unterrichtende an einem langen Schultag immer wieder ins Hier und Jetzt zu bringen, weg aus einer möglichen Dissoziation, kann auch die Schmetterlingsübung eingebaut werden, welche die SE-Therapeutin Kathi Bohnet in Ihrem Buch „Die Reise des Schmetterlings“ beschreibt.

Nervensystem stärken

Im Umgang mit Lese-Rechtschreib-Schwächen können SE-Elemente auch hilfreich sein. Es gilt das Prinzip umzusetzen, die Nervensysteme der Kinder und Jugendlichen zu stärken: durch Co-Regulation sowie mit Wissen um biologische somatische Abläufe. Buchstaben geraten wieder an ihren Platz, Wörter werden lesbar. Die Methoden von Somatic Experiencing ermöglichen der Lehrkraft einen professionellen Umgang mit außergewöhnlichen Situationen, welche in Schulen oftmals auftreten, sei es im kognitiven als auch emotionalen Bereich. Lehrkräfte mit SE-Erfahrung wissen um die Prozesse im Nervensystem und wie sie sich im Schulalltag zeigen.

Durch eigenes Nachspüren, bewusstes Einbeziehen der Spür-Ebene (des Hirnstamms), können Dysregulationen wieder ins Lot kommen. Eine Schülerin, die besonders unruhig ist, Hausaufgaben und Termine vergisst, im Klassenraum andere ablenkt oder ständig rein ruft, kann nachhaltiger und schneller ihr Verhalten ablegen, wenn sie das Angebot bekommt, in ein reguliertes Nervensystem wechseln zu können. Einer SE-geschulten Lehrkraft ist es möglich, in sogenannter Co-Regulation den Raum für die Schülerin zu halten, damit deren Selbstregulation bestenfalls wieder unverletzt ablaufen kann. Neurologische Netzbahnen können neu gelegt werden.

Schüler:innen nicht beschämen

Der Zugriff zum jahrtausendealten Stammhirn (Hirnstamm) gelingt aus biologischer Sicht nicht über das Reden. Ich kann als Lehrerin einem Schüler wiederholt sagen, er soll nicht mit dem Stuhl kippeln. Er wird dennoch immer wieder ins Kippeln kommen. Die kognitive Aufforderung, womöglich die Androhung oder Durchführung von Strafen, wird ihn nicht erreichen, sondern beschämen. Das Kippeln wird (vielleicht im Unterricht in einem anderen Fach) weitergehen. Mit SE gelingt ein anderer Zugang. SE- Methoden liegt es fern, Schüler:innen beschämen zu wollen oder bloß zu stellen, da die dysregulierenden Wirkungen auf das Nervensystem bekannt sind.

Hier ein kurzer Einblick in eine Szene im Klassenraum, mit SE-Wissen der Lehrkraft: Der Schüler H kippelt wieder mit dem Stuhl. Er sitzt nah an der Heizung, ein Umkippen könnte sehr gefährlich sein. Lehrerin A geht in die Nähe von H und fragt: „Macht dir das Kippeln Spaß?“ – H nickt. „Ich bin neugierig: Macht dir die Bewegung Spaß oder was ist daran so toll?“ Sie zeigt mit der Hand eine langsame Kippel-Bewegung. „Keine Ahnung.“ – „Keine Ahnung?“, fragt sie und eine Pause entsteht. Der Schüler löst den bisherigen Blickkontakt, schaut vor sich hin und schüttelt den Kopf, atmet tief ein, kippelt weiter.

In ruhigem, wohlwollenden, nicht aus dem Kontakt tretenden Ton sagt A: „Jetzt kippelst du wieder! Du weißt, wie gefährlich das ist?“ – „Egal. Ich mach das halt“, sagt er mit immer noch abgewendetem Blick. – „ Mhm“, sagt A, „ich hab eine Idee. Ich bringe dir nächste Woche so ein gemütliches Kissen mit, darauf darfst du sitzen. Und ich glaube, das wird so gemütlich sein, dass du nicht mehr kippeln wirst. Das geht nämlich damit gar nicht, das hat so einen extra Soft Foam drin, das ist so gemütlich. Du musst das unbedingt mal ausprobieren!“ Der Schüler guckt neugierig auf, die Blicke von A und H treffen sich, er rutscht mit dem Stuhl an den Tisch, und sagt dann: „Ok.“ – „Ich glaube, das wird gut“, sagt A, den Blick weiter wohlwollend zu H gewandt, ihm Sicherheit vermittelnd.

Sie gibt seinem System Zeit um zu integrieren. Er nickt, schaut A an, sein Blick wird weicher, A nickt ihm zu und dann geht der Unterricht weiter. In der nächsten Stunde bringt A das versprochene Sitzkissen mit. Andere Schüler wollen es sich ergattern, aber A sagt, H darf darauf sitzen. Und tatsächlich gelingt das Experiment. In der Stunde ist H ruhig, er arbeitet wenig mit, aber kippelt nicht. In der darauffolgenden Stunde arbeitet er dann mit und sagt: „Mit dem Kissen kann ich mich viel besser konzentrieren.“ Es bleibt A nichts anderes übrig, als noch ein zweites Kissen zu
besorgen: eins, auf dem H sitzt und das zweite für wechselnde Schüler:innen, die es ausprobieren möchten.

SE als neuer Impuls für die Schule

Hätte eine Schule SE im Schulprofil und würde traumasensibel gearbeitet, würden Lehrer:innen und Schüler:innen lernen, wie die Regulation ihres Nervensystems funktioniert, wie Beziehungen gelingen können, wie ihre eigene Selbstwirksamkeit gelingt: SE als neuer Impuls für die Schule, wo gelingendes Miteinander und besseres Lernen Hand in Hand gingen.

Wenn einzelne Lehrkräfte in die SE-Ausbildung gehen, ist ein Anfang gemacht. Schulleitungen sollten interessierte Lehrkräfte für die sechs Module innerhalb der drei Ausbildungsjahre freistellen, so wie es jetzt schon in einzelnen Förderschulen getan wird. Im 21. Jahrhundert sollte es eine grundlegende Selbstverständlichkeit sein, neuere Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die sich hilfreich auf einen gelingenden Schulalltag auswirken, aufzunehmen. Das traumasensible Wissen von Somatic Experiencing gehört dazu. Dies gilt auch besonders im Hinblick auf die Durchsetzung der Nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO (17 SDG), wo das Ziel 4 „Hochwertige Bildung“ ist.

Alle drei Gehirnebenen einbeziehen

Eine hochwertige Bildung kann in unserem Jahrhundert keine rein kognitiv geleitete Bildung mehr sein, wir müssen lernen, alle drei Gehirnebenen (Neokortex für das Denken, limbisches System für die Emotionen und den Hirnstamm für den Spürsinn) mit einzubeziehen, um der veränderten Kindheit adäquat begegnen zu können. Lehrer:innen, die mit SE-Werkzeugen unterrichten, tun ihrer eigenen Gesundheit Gutes und der der Schüler:innen, da sie sich immer mehr im Window of Tolerance befinden und bei traumatisierenden Ereignissen gemeinsam in die Regulation zurück finden.

Abschließend möchte ich betonen, dass die Methode Somatic Experiencing (SE) die Folgen von traumatisierenden Erlebnissen (wie Naturkatastrophen, Unfällen, medizinischen Eingriffen, auch Zahnbehandlungen, Operationen, Stürzen, Gewalterfahrungen (selbst erlebt oder zugeschaut), Krieg, Missbrauch, Tod Nahestehender, Scheidung) wesentlich mildern oder bestenfalls beenden kann. Daher plädiere ich für die Aufnahme von SE in die Schule. Wir sind dies uns und der jungen Generation schuldig, gerade auch im Hinblick auf die psychischen Folgen der Corona- Pandemie.

„Das Trauma liegt nicht im Ereignis, sondern im Nervensystem“, Dr. Peter A. Levine

Somatische Erfahrung und junge Erwachsene

Das Leben junger Erwachsener ist gekennzeichnet durch viele Übergänge. Zum einen geht es um die Lösung aus der Familie, gewohnten Strukturen und der vertrauten Umgebung: Man ist nicht mehr geschützt in seinem Freundeskreis oder im Sportverein. Zum anderen gilt es, Neues zu finden, Neuland zu betreten, mit unbekannten und unvertrauten Aufgaben in Berührung zu kommen. Es gibt viele neue Begegnungen, viel Kommunikation, ein aufregendes Leben beginnt.
Als junge/r Erwachsene/r heißt es, die persönlichen Grenzen neu zu finden und sich angemessen einzubringen. Genauso gilt es herauszufinden, wer oder was Sicherheit bietet und was sich sicher anfühlt.

Zudem muss die Bereitschaft vorhanden sein, etwas auszuprobieren und erkunden zu wollen. Die jungen Erwachsenen sollten daran interessiert sein, was in ihnen selber vorgeht.
Es braucht Interesse, selber oder mit Unterstützung einer Therapeutin herauszufindenn, was sie tun können, um an ihrer eigenen Weiterentwicklung mitzuwirken.

Indikationen für eine Behandlung

Doch was sind die Indikatoren, dass eine Behandlung nötig ist? Das können sein Unruhe, Schlafstörungen, mangelnder Selbstwert, Prüfungsängste oder Ängste allgemein. Andere Anzeichen sind Zurückgezogensein oder Kontaktschwierigkeiten. Auch Leistungsdruck, Überforderung und schnelles Schwitzen gehören dazu; das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt.

Was kann Somatische Erfahrung bewirken?

SE hilft, die Reaktionsweisen des autonomem Nervensystems besser zu verstehen und schneller zu erkennen. Dadurch ist ein angemessener Umgang mit den eigenen Grenzen möglich und das Gefühl von Sicherheit etabliert sich zunehmend.
Jungen Erwachsenen wird es ermöglicht, Selbstregulierung und Entschleunigung zu erlernen. Sie lernen sich besser selbst kennen, sodass eine adäquate Selbsteinschätzung möglich ist für eine klare Grenzsetzung und Kräfteeinteilung. Sie erkennen Orte und Zeiten, die einen erholsamen Rückzug ermöglichen.

Somatische Erfahrung ermöglicht jungen Erwachsenen, Beziehung einzugehen im Hier und Jetzt mit einem Gegenüber. Sie können von Ressourcen und Hobbys etablieren und am gemeinschaftlichen Leben teilnehmen. Somatische Erfahrung ist ein Beitrag für mehr Resilienz und Belastbarkeit.

In der Somatischen Erfahrung wird nicht mit dem Ereignis an sich gearbeitet, vielmehr wird die persönliche Erfahrung, die mit diesem Ereignis gelebt wird, unter die Lupe genommen.

Ulrike Worthmann-de Matos Marques, Feldenkrais, Somatic Experiencing, Physiotherapeutin, Dipl. Sozialpädagogin,  Heilpraktikerin für Psychotherapie